Demut und Demütigung

Demut und Demütigung

«In der Demut einer den anderen höher achtend als sich selbst» (Phil 2,3).

«Alle aber seid gegeneinander mit Demut fest umhüllt; denn ‹Gott widersteht den Hochmütigen, den Demütigen aber gibt er Gnade.› So demütigt euch nun unter die mächtige Hand Gottes, damit er euch erhöhe zur rechten Zeit» (1. Pet 5,5.6).


Demut

Was ist Demut und wie werde ich demütig? Wie funktioniert das im täglichen Leben? Diese oder ähnliche Fragen wollen wir uns im Folgenden genauer ansehen. Die Aussage von Paulus in Philipper 2,3 über Demut ist für jeden ernsthaften Christen im Blick auf sich selbst und im Umgang mit anderen Menschen, gläubig oder ungläubig, eine tägliche Herausforderung. Was denke ich von mir? Wie sehe und beurteile ich andere?

In dieser Bibelstelle geht es nicht darum, den geistlichen Zustand von mir und den anderen zu beurteilen und mich dann auf einer Werteskala möglichst unten anzusiedeln. Nein, es handelt sich um eine grundsätzliche, innere Einstellung gegenüber Gott und den Mitmenschen. In einer demütigen Haltung denke ich nicht hoch, gross oder wichtig von mir selbst.

«Ich sage durch die Gnade, die mir gegeben worden ist, jedem, der unter euch ist, nicht höher von sich zu denken, als zu denken sich gebührt, sondern so zu denken, dass er besonnen sei, wie Gott einem jeden das Mass des Glaubens zugeteilt hat» (Röm 12,3).

«Seid gleichgesinnt gegeneinander; sinnt nicht auf hohe Dinge, sondern haltet euch zu den Niedrigen; seid nicht klug bei euch selbst» (Röm 12,16).


Solange wir uns mit anderen vergleichen, haben wir an Versen wie Philipper 2,3 zu kauen. Aber in dem Moment, da wir uns nicht mehr mit anderen messen, sondern uns in Christus vor Gott, dem Vater, sehen, wird alles Vergleichen ein Ende haben. Wir erkennen mit Erstaunen und Dankbarkeit die Höhe, zu der uns Gott in Christus erhöht hat. Gleichzeitig werden wir klein in unseren Augen. Diese Reaktion finden wir bei Paulus, als er sich mit dem ewigen Ratschluss Gottes beschäftigte: «Mir, dem allergeringsten von allen Heiligen, ist diese Gnade gegeben worden, den unergründlichen Reichtum des Christus zu verkündigen» (Eph 3,8).

Klein in unseren Augen oder eben demütig werden wir, wenn wir uns mit etwas Grossem beschäftigen. Wenn ich am Fuss eines hohen Berges stehe, komme ich mir klein vor. So lehrt uns Gott schon durch die Schöpfung, nicht gross von uns zu denken.

Doch wir lernen vor allem Demut, wenn wir uns mit dem allmächtigen, allwissenden, allgegenwärtigen Gott beschäftigen. Das Bewusstsein der Gegenwart Gottes sowie das Betrachten seiner unendliche Liebe und seiner grossen Gnade machen uns demütig.

Es ist nur möglich, demütig zu sein, wenn ich als Kind Gottes in seiner Liebe und Gnade ruhe. Ich darf wissen,

- dass ich sein geliebtes Kind bin (1. Joh 3,1),

- in seinem Sohn völlig von Ihm angenommen bin (Eph 1,6 Fussnote) und

- in Christus zur höchsten Stellung vor Ihm gebracht bin (Eph 1,4.5).


Solange ich die Höhe, zu der Gott mich erhoben hat, nicht kenne und nicht völlig in diesem Glück zur Ruhe gekommen bin, werde ich versuchen, in irgendeiner Weise mir selbst Wert und Wichtigkeit zuzulegen. Doch dieses Demütig-sein-Wollen ist nur eine weitere Art von Hochmut. Sie bleibt eine gesetzliche, fleischliche Anstrengung mit all den Folgen einer gesetzlichen Haltung. Die Kolosser standen in Gefahr, einer solchen Art der Demut zu erliegen (Kol 2,20-23). Es ist eine Demut, die von anderen bemerkt werden soll und die wir hochmütig vor uns hertragen, indem wir auf andere herabblicken. Etwas Ähnliches verurteilt unser Herr in Matthäus 6,16-18. Ausgerechnet beim Fasten, womit unter anderem Demütigung ausgedrückt wird, wollten die Juden gesehen werden! Sind wir besser als sie?


Paulus ist in Epheser 1 mit der Herrlichkeit der Gnade Gottes beschäftigt, d.h. mit dem ewigen Plan Gottes für seinen Sohn und seine Erlösten (Eph 1,6). In Epheser 3 befasst er sich zudem mit der Gabe der Gnade Gottes, d.h. mit der Aufgabe, die Gott ihm persönlich gegeben hat (Eph 3,7). Beides macht ihn klein. Er nennt sich den allergeringsten der Heiligen. Trotzdem vergisst er die besondere Gabe nicht, die Gott ihm gegeben hat. Aber er tat seinen Dienst in Demut vor dem Herrn. «Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin; und seine Gnade gegen mich ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet als sie alle; nicht aber ich, sondern die Gnade Gottes, die mit mir war» (1. Kor 15,10).

Für ein gesundes, geistliches Leben ist es unerlässlich, dass wir Gottes Liebe und Gnade zutiefst in unseren Herzen erfassen. Ich schwimme sozusagen in seiner Liebe und vergesse mich selbst. Deshalb wird gesagt: Demut ist nicht, schlecht von sich zu denken, sondern gar nicht an sich zu denken. Terstegen dichtete:

Ich will, anstatt an mich zu denken,

ins Meer der Liebe mich versenken.

Demütigung

Es gibt einen Unterschied zwischen demütig sein und gedemütigt sein. Es ist wichtig, dass wir ihn kennen, denn das Resultat von Demütigung ist nicht automatisch Demut.

Wir demütigen uns wegen persönlichem oder gemeinsamem Versagen. Da beschäftigen wir uns mit uns selbst und unseren Sünden und das Resultat davon ist Demütigung. Das ist oft nötig und hat einen wichtigen Platz in unserem persönlichen und gemeinsamen Leben. Denn ohne Beugung und Bekenntnis vor Gott geht der Weg nicht weiter und gibt es keine väterliche Vergebung.

«Wenn wir unsere Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und uns reinigt von aller Ungerechtigkeit» (1. Joh 1,9).


Wir erkennen, wie bedeutend die Demütigung in der Gegenwart Gottes ist. Sie beinhaltet, dass wir unser Versagen und unsere Sünden Gott aufrichtig bekennen. In seiner Gegenwart verzweifeln wir aber nicht wegen unserer Schuld, denn Er wird uns zur Annahme seiner Gnade und Vergebung weiterführen.

Was gab wohl Daniel den Mut und die Freimütigkeit, im Bewusstsein des völligen Versagens zu Gott zu flehen? Es war das Wissen um seine Barmherzigkeit. «HERR! Unser ist die Beschämung des Angesichts, unserer Könige, unserer Fürsten und unserer Väter, weil wir gegen dich gesündigt haben. Des Herrn, unseres Gottes, sind die Erbarmungen und die Vergebungen ... Nicht um unserer Gerechtigkeiten willen legen wir unser Flehen vor dir nieder, sondern um deiner vielen Erbarmungen willen» (siehe Dan 9,1-19).

Sünden werden vor Gott in Anwesenheit von Gnade bekannt und geordnet. Dann kann Er uns vergeben und aufrichten. Es gibt viele Bibelverse, die uns diesen Grundsatz zeigen: Jakobus 4,10; 1. Petrus 5,6; 2. Chronika 34,27; Jesaja 1,18; 43,24-26; Psalm 119,67.71.75.

Paulus hat sich über seine Sünden – die Verfolgung der Christen – gedemütigt. Immer wieder schreibt er von seinem verkehrten Leben vor seiner Bekehrung (1. Kor 15,9; 1. Tim 1,15). Nie hat er vergessen, wer er von Natur aus war und was er getan hatte! Diese Einstellung ist auch für uns wichtig. Sie wird uns davor bewahren, andere, die noch in ihren Sünden leben, zu verachten. Sie macht uns mild im Umgang mit unseren Mitmenschen.


In seinem ersten Brief ermahnt uns Petrus, mit Demut fest umhüllt zu sein und verbindet es mit einer ernsten Warnung: Gott widersteht den Hochmütigen! Hochmut ist der Ursprung der Sünde. Satan hat sich überhoben, Das erste Menschenpaar wollte wie Gott sein und fiel in Übertretung. Im Allgemeinen prägt Hochmut die Menschen und ihr Handeln. Aber wie tragisch, wenn wir durch Hochmut die Gnadenquellen Gottes für uns verschliessen und Er uns widerstehen muss! Noch schlimmer ist es, wenn wir uns trotz Mahnungen nicht über unseren Hochmut demütigen. Gibt es nicht viele warnende Beispiele in der Bibel, welch schlimmes Ende ein solcher Weg nimmt? «Ein Mann, der, oft zurechtgewiesen, den Nacken verhärtet, wird plötzlich zerschmettert werden ohne Heilung» (Spr 29,1).

Darum fordert uns Petrus zur Demütigung auf. Er kannte Hochmut aus eigener Erfahrung (Mk 14,27-31). Aber er durfte auch die gesegnete Erfahrung machen, wie der Herr nach seinem Fall mit ihm handelte. Noch bevor er sich demütigte, blickte der Herr ihn an und überführte ihn von seiner Sünde (Lk 22,61.62; Mk 16,7; 1. Kor 15,5). Wie hat sich doch das bittere Weinen des Petrus in grosse Freude verwandelt.


Jesus Christus, unser Vorbild

Der Herr Jesus war von Herzen demütig (Mt 11,29). Er musste das nicht lernen. Demut war in seinem Herzen, war ein Teil seiner Gesinnung. In unseren Herzen existiert von Natur aus eine völlig andere Einstellung (Mk 7,21.22). Darum müssen wir Demut lernen, und zwar beim Herrn Jesus. Als Er auf der Erde war, hat Er den Platz als abhängiger, gehorsamer und demütiger Mensch eingenommen. Denn Demut ist die richtige, angemessene Haltung des Menschen vor Gott.

Bei einigen Gelegenheiten offenbarte der Herr seine Herzensdemut in besonderer Weise:

- In welche Armut wurde Er hineingeboren! Zudem wuchs Er in einer verachteten Ortschaft und in einer verpönten Gegend auf (Joh 1,46; Mt 4,15.16). Demütig Er war bereit, ein Kind von armen Eltern zu sein und in Nazareth zu wohnen.

- Dann machte Er sich mit den Juden eins, die sich von Johannes taufen liessen. Nicht weil Er Busse, Umkehr oder Demütigung nötig gehabt hätte, sondern aus Gnade nahm Er den niedrigen Platz neben den bussfertigen Menschen ein (Mt 3,13-15).

- In Matthäus 11 sprach der Herr Jesus über die Verwerfung, die Er von den Juden erfuhr, und über den wohlgefälligen Willen des Vaters. Obwohl Er die Ablehnung als Messias von seinem eigenen Volk zutiefst empfand, unterstellte Er sich dem göttlichen Willen. Er sagte: «Ja, Vater, denn so war es wohlgefällig vor dir.» Dann fügte Er hinzu: «Lernt von mir, denn ich bin sanftmütig und von Herzen demütig.» Was für herrliche Worte! Er suchte keinen hohen Platz in dieser Welt, sondern unterwarf sich Gott. Darum hat Dieser Ihm den Platz zu seiner Rechten gegeben und wird Ihn bald vor allen Menschen auf der Erde erhöhen (Phil 2,6-11).

- Ein weiteres schönes Beispiel finden wir in der Begebenheit mit dem reichen Jüngling (Mk 10,17-18). Jesus sagt nicht, dass Er nicht gut sei. Aber Er macht klar: Wenn man jemand gut ist, dann ist das Gott und nicht der Mensch. Auf diese Weise nahm Er einen Platz als niedriger Mensch vor Gott ein, wie Er es auch in Psalm 16 prophetisch ausdrückt: «Du, meine Seele, hast zu dem HERRN gesagt: Du bist der Herr; meine Güte reicht nicht zu dir hinauf» (Ps 16,2). Welch eine demütige Gesinnung sehen wir bei Ihm! Unser Herr hatte nicht nötig sich, irgendetwas zuzuschreiben, sich selbst Grösse oder Wert zu geben, denn Er lebte als Mensch in glücklicher Gemeinschaft mit seinem Gott (siehe Ps 16,5-9).


Der Herr Jesus musste sich nie demütigen, denn alles war bei Ihm vollkommen. Nie tat oder sagte Er etwas Böses. Nie ist sein Leben durch eigene Schuld schwierig geworden.

Aus Liebe zu seinem Gott und zu uns Menschen ist Er Mensch geworden und hat sich erniedrigt, indem Er gehorsam wurde bis zum Tod am Kreuz von Golgatha. Er ist arm geworden, damit wir durch seine Armut reich würden. Er ist für uns gestorben, die wir im hoffnungslosen Bemühen, etwas aus uns selbst zu machen, in immer grössere Schwierigkeiten geraten sind. Er hat für uns, die wir häufig darüber wetteifern, wer der Grösste ist, sein Leben gegeben. Verhalten wir uns nicht oft wie die Jünger, die - als der Herr über seinen Tod redete - darüber stritten, wer der Grösste unter ihnen sei (Lk 9,44.46)?


Unser Herr und Heiland hat uns durch sein Erlösungswerk zu Erlösten und Kindern Gottes gemacht. Als solche besitzen wir einen grossen Wert vor Gott. Aus dieser hohen Stellung heraus wollen wir von Ihm diese echte Herzensdemut, diese Niedriggesinntheit lernen, die so anziehend ist.

«Zieht nun an, als Auserwählte Gottes, als Heilige und Geliebte: herzliches Erbarmen, Güte, Demut, Sanftmut, Langmut» (Kol 3,12).


Urs Hänseler